Gastkolumne: "Mein Tagebuch ist eine Kläranlage" von Christiane Gorius

Christiane Gorius
Foto aus eigenem Bestand

Als ich vor vielen Jahren einem Bekannten sagte, dass ich seit meinem zwölften Lebensjahr regelmäßig Tagebuch schreibe, schaute er mich mit großen Augen an und meinte, dass er das für Zeitvergeudung hält. Das Leben sei schließlich kurz und die eigene Biographie zu unbedeutend, um es sorgfältig zu kommentieren. 

Viele Jahre sind seitdem vergangen und an den Typen, der mir dies während meiner Studienzeit sagte, erinnere ich mich kaum. Seine Worte blieben mir  hingegen im Kopf hängen. Während ich meine Lebensgeschichten in den vielen Tagebüchern verarbeite, es sind mittlerweile über 56, ist mir bewusst, dass ich eine Ausnahme bin, denn die meisten Menschen kommen wunderbar ohne dieses Ritual klar. Trotzdem frage ich mich, ob dieser Mann eventuell doch recht hatte, als er meinte, dass das eigene Leben zu belanglos sei, um darüber zu räsonieren?

Indem ich trotzdem weiterhin unverdrossen Gedanken, Eindrücke, Geschehnisse, Gefühle, Erkenntnisse, Wünsche, Sehnsüchte, Erinnerungen, Probleme, Sorgen und Erfolgserlebnisse aufs Papier bringe, spüre ich Befreiungsschläge und Klärungsprozesse, die mir mittlerweile ans Herz gewachsen sind. 

Diese Selbstgespräche haben eine ganz andere Qualität als Dialoge mit Menschen oder professionellen Helfern. Besonders reizvoll erscheint mir dabei, dass das Tagebuch eine Art Leinwand ist, auf der ich meine seelischen Zustände mit einer gewissen Distanzbetrachte, obgleich sie im Prozess des Schreibens stürmisch, ungeschliffen und emotional aus den Fingern meiner Hand purzeln. Schließlich kann ich abwägen, befürworten, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, belächeln und ausmisten.

So ist das Tagebuchschreiben für mich lebensnotwendig, denn nicht selten sprudelt in mir nacheinigen Seiten eine gewisse Kraft auf, die Mut macht, erfrischt und sogar Lebenslust weckt. Der Akt des Schreibens prickelt, befreit und verwandelt. 

In den tiefsten Krisen meines Lebens hatte ich glücklicherweise Menschen in meinem Umfeld, die mir konkret halfen und praktische Tipps gaben. Aber meine Grundenergie erzeuge ich immer wieder über das Schreiben. Es hilft über Klippen und bringt seelisch Klarheit.

Meine Mutter beobachtete damals meine anfänglichen Kritzeleien mit Skepsis und Sorge. Sie drückte aus, dass sie sich nicht sicher sei, ob das Schreiben für meine Entwicklung gesund sei. Ich ließ ihre Worte stehen und dachte im Stillen: "Wenn du wüsstest, wie klasse das ist!"

Es verging kein Jahr, als ich mir plötzlich die Augenreiben musste, da meine Mutter eines meiner leeren indischen Notizbücher, die es damals im Siam Asia Shop gab, für sich selbst haben wollte. Sie wusste von meinem Vorrat, denn ich sammelte darin auch meine Lieblingsgedichte. 

Als sie mit der Sammlung ihrer eigenen Tagebucheintragungen begann, war sie ungefähr so alt wie ich jetzt. Übrigens schrieb sie, im Gegensatz zu mir, intensiver und regelmäßiger. Natürlich erfüllte mich ihr überraschendes Verhalten mit etwas Stolz. Schließlich schaute sie sich von ihrer Jüngsten was ab.

Viele Jahre später kam eine junge Frau in meinen Theaterworkshop und erzählte uns begeistert von einem Buch, in dem es um grandiose Kreativitätsstrategien gehe. Ich war ganz Ohr, denn alles, was mit Kreativität und Inspiration zu tun hat, saug ich auf wie ein Staubsauger. Die junge Frau, sie ist inzwischen eine tolle Sängerin und Gesangspädagogin, berichtete uns darüber, dass sie autodidaktisch "Den Weg des Künstlers" geht. Es war in den Nuller Jahren und der Kurs stammt von der Bestsellerautorin Julia Cameron.

Die Bücher dieser inspirierenden Künstlerin begleiten mich seitdem durchs Leben und das Schönste daran ist, dass ich beim Lesen des Kurs-Buches "Der Weg des Künstlers" endlich verstand, warum das Tagebuchschreiben so fantastisch, essenziell, inspirierend und wichtig für mich ist, vor allem am Morgen. Cameron empfiehlt das regelmäßige Schreiben der Morgenseiten, um all das niederzuschreiben, was dem eigenen Schaffensprozess im Wege steht. Das Banale, Lästige, Kleinkarierte, Hemmende, Störende und Deprimierende. Alle Blockaden der Lebensenergie werden durch den klärenden Akt der Morgenseiten beleuchtet, beäugt und schließlich losgelassen. 

Für mich ist das Tagebuch eine Kläranlage, ohne die ich nicht leben kann. Ob mein inneres Waschprogramm für die Nachwelt einen Wert hat, wage ich zu bezweifeln. Trotzdem habe ich nichts dagegen, wenn man meine seelischen Waschdokumente nach meinem Ableben dem deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen überlässt. Falls man meine Kralle noch lesen kann!

Hier mein Buchtipp:

Julia Cameron: "Der Weg des Künstlers". Ein spiritueller Pfad zur Aktivierung unserer Kreativität. Knaur/Leben. 2019. 10,99 Euro

Christiane Gorius

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