Gastkolumne Peter J. Reichard- GEWALT GEGEN LEHRER an jeder 4. Schule – was nun?

 Peter J. Reichard
Das erschreckende Ergebnis der im Auftrag des VBE von Forsa durchgeführte Befragung von Schul-leitungen wird gegenwärtig verbreitet diskutiert: 26 % der befragten Schulleitungen berichteten 2016, dass es an ihren Schulen zu psychischer und sogar physischer Gewalt gegenüber Lehrkräften gekommen sei. 

Schweigende Opfer 

Natürlich greifen die Medien das heikle Thema auf und rufen damit verbreitete Aufmerksamkeit hervor. Das ist gut so, denn die Mehrzahl betroffener Lehrkräfte möchte sich selbst dazu aus verständlichen Gründen lieber nicht oder allenfalls anonym äußern. 

Gewalt im Alltag 

Warum die Hemmschwelle bei Heranwachsenden und sogar bei Eltern zu verbalen, medialen und physischen Attacken auf Lehrkräfte so dramatisch gesunken ist, hängt – so sehe ich es – mit vielerlei "Krankheiten" unserer Gesellschaft zusammen. Damit meine ich Anspruchsdenken, Egozentrik und Konsumverhalten. Diese Verhaltensweisen werden durch Medien und Werbung verschlimmert: Geldgier, Klickprämien und Einschaltquoten beflügeln die widerwärtigsten Angebote und lassen zu wenig Raum für qualitativ hochwertige Inhalte. 

Erdachte Gewaltdarstellungen in Krimis und Spielen wie auch detaillierte Berichte über tatsächliche Gewaltphänomene in den Medien beflügeln Gewaltfantasien und geben Gewalttätigkeiten den Anschein von Normalität. Die rohe Gewalt extremistischer Aktivisten, die Brutalität von Gewaltverbrechern, die Gaffer-Mentalität gegenüber Verunglückten, die Unterlassung lebensrettender Hilfeleistungen, das mangelnde Bewusstsein für die Notwendigkeit von Rettungsgassen, ja deren dreisten Missbrauch zum vermeintlich eigenen Vorteil, die Preisverleihung an gewaltverherrlichende Rapper – dergleichen trägt dazu bei, dass unerzogen orientierungslos Heranwachsende sich einen Spaß daraus machen, dergleichen auch selbst auszuprobieren. 

Gerade weil die Freude an der Aggression gegenüber Sachen, Lebendigem und Menschen pervers ist, ist aggressives Verhalten für Menschen attraktiv, denen es an anderen Erfolgen mangelt.

Anspruchsdenken der Gesellschaft 

Der heutigen Elterngeneration wurde zu ihrer Schulzeit als Ziel ihrer schulischen Bildung verheißen: "Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung". – Ersteres ist voll gelungen, das zweite in der Schule vernachlässigt, kaum verstanden und von vielen schon gar nicht akzeptiert. Darum gehen viele Eltern lieber ihrem Job und ihrem Freizeitvergnügen nach als sich um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern. Das sei doch Sache der Schule, postulieren sie. Und wenn die Schule sich dem Erfolg des eigenen Kindes nicht als förderlich erweist, dann aber! Elterliches Mitwirkungsrecht ist ja gesetzlich garantiert. Das Anspruchsdenken mindert die Unterstützungsbereitschaft: "Wieso denn ich?!" Zu dieser Einstellung passt es, Lehrkräften und Schulleitungen gegenüber sogar aggressiv aufzutreten. 

Scheinerfolge in Schulen 

Nicht was die Jugendlichen gelernt haben ist relevant, sondern was ihnen attestiert wird. Indem das Schulgesetz z.B. in NRW die individuelle Förderung gleichrangig neben Bildung und Erziehung als Schulauftrag definiert hat und die Lehrkräfte zur gerichtsfesten Dokumentation der individuellen Förderung im Fall von Minderleistungen verpflichtet, unterstützt die Politik entsprechende elterlichen Erwartungen sehr effektiv. Die Inflation von Bestnoten im Abitur sind ein Hinweis auf die Wirksamkeit des politischen Willens, die Abiturientenzahlen zu steigern. 

Während in den 50er Jahren Kinder vor Aufnahme an ein Gymnasium in einer Aufnahmeprüfung nachweisen mussten, dass sie lesen, schreiben und rechnen können, stellen heute Hochschullehrer erschrocken fest, dass etliche Abiturienten diese Grundfertigkeiten nicht hinlänglich beherrschen. Was unternimmt die Politik dagegen? 

Zuständigkeiten für Erziehung 

Wie ist dem beizukommen, wenn nun auch noch die Lehrkräfte verunglimpft oder verprügelt werden, die Heranwachsenden behilflich sein sollen, sich zu Persönlichkeiten zu entwickeln? Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen können es nicht verhindern. Denn ihr unmittelbarer Einfluss auf die Schülerinnen und Schüler ist gering und setzt erst ein, wenn ein unguter Vorfall eingetreten ist. Der Umstand, dass inzwischen an fast allen Schulen Sozialarbeiter oder Schulpsychologen eingestellt sind, signalisiert einerseits, dass es verbreitet kritische Situationen an Schulen gibt, denen sich Lehrkräfte und Schulleitungen nicht gewachsen fühlen. Sie sind andererseits Ergebnis eines verbreiteten Zuständigkeitsdenkens: Lehrkräfte sind danach für das Unterrichten, Schulleitungen für das Funktionieren der Schule und die Sozialarbeiter und Psychologen für pädagogische Problemsituationen zuständig. Und dann sind wir hierzulande vermeintlich Meister im Umgang mit Schwierigkeiten: Wir definieren solche Zuständigkeiten und ersinnen "angebrachte" Maßnahmen sowie Kontrollgremien und Verfahren zur Überprüfung ihrer Wirksamkeit. Wo aber bleibt der Erfolg? 

Aktionismus der Bildungspolitik 

Politiker scheinen zu glauben, es sei das Wichtigste, die Bildung durch gewaltige Investitionen zu fördern, z.B. in die Modernisierung der Schulen. Tafel und Kreide ade, die Whiteboards müssen durch Smartboards ersetzt werden. Und Schüler machen sich ein Vergnügen daraus, letztere dann so zu manipulieren, dass sie bis zur Reparatur durch einen Fachmann nicht mehr funktionieren. Der Rechtsanspruch aufs iPad lässt sich sogar von Hartz-IV-Empfängern geltend machen. In Büchern lesen – wie altmodisch! Sind die Schulen damit auf einem guten Weg? 

Anspruch und Wirklichkeit der Lehrerausbildung 

John Hattie hat mit seinen umfänglichen Metastudien eine Binsenweisheit zum Forschungsergebnis geadelt: "Auf den Lehrer kommt es an." Das heißt: Die Lehrerpersönlichkeit hat nachweislich den größten Einfluss auf die Entwicklung der Lernenden. Das wissen alle, die sich an ihre Schulzeit erinnern. Der unsympathische Lehrer konnte fachlich noch so perfekt sein, er erreichte die Mehrzahl seiner Schüler nicht. Der menschliche, vielleicht weniger perfekte aber doch sympathische Lehrer hingegen ist vielen nach Jahren noch als angenehm in Erinnerung – als einer, bei dem man gern gelernt hat. Je ausgeprägter die Lehrerpersönlichkeit, desto wirkungsvoller! Wie aber werden Lehrer ausgebildet: Die Bildungspolitiker erlassen Ausbildungsordnungen, in deren Zentrum die Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht stehen. "Nebenbei" kommen zugehörige Förder-, Beratungs- und Beurteilungsaufgaben zur Sprache. Aber die Persönlichkeitsbildung der Lehrer, ihr Verhalten im Umgang mit sich selbst, Schülern und Eltern sowie der Kompetenzerwerb im genuin pädagogischen Handeln kommt allenfalls marginal vor. Es fehle dafür einfache die Zeit, heißt es an den Seminaren. Es fehlt aber auch ein Konzept. Es fehlt an Traute, in einer multikulturellen Gesellschaft ein Erziehungskonzept für alle aufzustellen und zu vermitteln. Mit dem Aufhängen von Kreuzen in Klassenzimmern ist es - weiß Gott - nicht getan. 

„Wissenschaftlichkeit“ der Ausbildungsordnungen 

Die Kultus- bzw. Schulministerien berufen sich bei der Lehrerausbildung auf deren angeblich bewährte "wissenschaftliche Begleitung". Da gibt es viele einflussreiche Berater, die nach der eigenen Schulzeit keine Schule mehr von innen erlebt oder gar mitgestaltet haben. Aber sie tragen ehrfurchtgebietende akademische Titel. Derart hochqualifizierte Berater schaffen gedankliche Konstrukte auf hohem Abstraktionsniveau mit fachsprachlich verbrämten, umfänglichen Begründungen, die noch schwerer zu widerlegen als zu verstehen sind. 

Das ist Lobbykratie im Bildungsbereich, die mit ministeriellem Segen als integer hingestellt wird. So streift sich die mangelnde Sachkompetenz der Schuladministration die"Wissenschaftlichkeit" ihrer ausgewählten Berater als Mäntelchen über, das ihre Blöße verstecken und Einreden ungebetene Ratgeber nicht durchlassen soll. 

Kompetenzerwerb für Lehrer 

Worauf genau kommt es denn offenkundig beim Lehrer an: Auf sein Verhalten als Persönlichkeit! Er muss Selbstkompetenz entwickeln, die ihn befähigt, Heranwachsenden bei der Ausbildung eben dieser Fähigkeit behilflich zu sein, die sie zu Persönlichkeiten werden lässt. Das eigene Verhalten nicht nur rückblickend zu reflektieren, sondern sich die voraussichtlichen Wirkungen möglicher Verhaltensweisen bewusst zu machen, damit mögliche Entscheidungen abzuwägen und sich für eine verantwortbare Möglichkeit zu entscheiden, das lässt sich erlernen und üben. "Was ist gut für dich selbst, für dein Gegenüber und für die Umwelt – jetzt und künftig?", so lautet die Leitfrage der Bewusstseinsbildung. Zum Training von Lehrkräften im Selbststudium oder in Aus- und Fortbildung geeignete Konkretisie-rungen dieses Konzeptes sind Inhalt der beiden Büchern von Peter Denker "Schule des Bewusstseins – Ein pädagogisches Lesebuch" und "Schulen brauchen gute Lehrer – Verhaltensratgeber für Lehrer zum Umgang mit sich selbst, Schülern, Eltern, Kollegen und Chefs". Der pädagogisch versierte Autor hat Schulen aus unterschiedlichsten Perspektiven kennengelernt und aktiv mitgestaltet. 

Bewusstseinsbildung bietet Schutz

Das Konzept der Bewusstseinsbildung befähigt Lehrkräfte, sich so zu verhalten, dass sie keine Attacken zu befürchten haben und dass sie, wenn es trotzdem dazu käme, souverän damit umzugehen verstehen. Sie behalten damit die Vorbildfunktion, aus der heraus sie Orientierung gebend erzieherisch wirken. Und diese Wirkung beschränkt sich nicht auf Krisenintervention, Nachsorge und abstrakte Präventivkonzepte wie bei Schulpsychologen und Sozialarbeitern. Vielmehr wirkt die umfängliche Präsenz der Lehrkräfte begleitend-vorbeugend und situativ-unmittelbar bei Vorkommnissen in und außerhalb von Unterricht, die erzieherisches Einwirken fordern. Der als "Entwicklungshelfer" seiner Schüler ausgebildete Lehrer soll und will seine pädagogische Zuständigkeit nicht aus der Hand geben.

Vielmehr ist es seine genuine Aufgabe, nicht nur guten Unterricht zu erteilen, sondern dabei auch spürbar zu machen, dass seine Schüler ihm lieb und wichtig sind. Das ist umso bedeutsamer, als leider viele Eltern eben dies ihren Kindern nicht bieten. Das Konzept der Bewusstseinsbildung schließt auch eine intensive Elternarbeit an Schulen ein. Wo diese nicht angenommen wird, sind die Lehrer für sehr viele Heranwachsende die einzigen Erwachsenen, die auf sie einen guten Einfluss ausüben können, solange Schulpflicht besteht. Und damit ruht auf den Lehrerpersönlichkeiten die Hoffnung, dass es auch künftig in unserer Gesellschaft immer weniger "Ausreißer" geben wird, die sich noch so liebenswürdiger Anleitung verweigern. Die meisten Schulabsolventen aber entwickeln sich durch Bewusstseinsbildung zu Persönlichkeiten, denen zu begegnen Freude macht. Diese Vision hat den Autor Peter Denker motiviert, seine pädagogischen Erfahrungen in seinen Büchern zu publizieren. Mögen sie zunehmende Publizität erlangen!

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