Gastkolumne Peter Denker: Kinderstreit schlichten

 Peter Denker
Der Autor  Peter Denker hat Schulen aus unterschiedlichen Perspektiven kennengelernt und  zwar als Abiturient, Lehramtsstudent, Praktikant, Referendar, Vater von drei Kindern, Gymnasiallehrer, Fortbildungsmoderator für "Schulentwicklung", Schulaufsichtsbeamter, Schulleiter und Autor von pädagogischen Publikationen.  Hier nun seine erste Gastkolumne auf " Buch, Kultur und Lifestyle".

Bewusstseinsbildung kann auch im Elternhaus praktiziert werden. Ein Kapitel des Buches "Schule des Bewusstseins" zeigt auf, wie es einer Mutter gelingt, den Streit ihrer Kinder aus alltäglichem Anlass beispielhaft zu schlichten. Einfach und authentisch entlarvt sie Verallgemeinerungen und verlangt Konkretisierungen, macht ihre Haltung und Gefühle verständlich, regt zum Perspektivwechsel an, erteilt einen hilfreichen Suchauftrag, hält die Kinder zu skeptischem Nachfragen an und führt sie zu einer für das künftige Verhalten hilfreichen Absprache. Eine gelungene Mediation - so entnommen dem Buch "Schule des Bewusstseins": Vielleicht zur Diskussion auf Elternabenden, bestimmt zu Lektüre, Gedankenaustausch und Nachahmung für Eltern. 

Der Streit 

Hanna: "Du hast mir mein Mäppchen geklaut." 
Paul: "Stimmt gar nicht."
Hanna: "Das hast du ja schon oft gemacht." 
Paul: "Du weißt ja bloß wieder nicht, wo du es vermasselt hast." 
Hanna: "Du willst mich immer bloß ärgern." 
Paul: "Du schiebst immer alles auf mich." 
Hanna "Du lügst." 
Paul: "Du spinnst." 
Hanna: "Du Lügner!" und eine Backpfeife. 
Paul: "Jetzt reicht es!" und ein Schlag zurück. 
Die beiden prügeln auf einander ein. - 
Nach geraumer Zeit flüchtet Hanna heulend zur Mutter: "Paul hat mich verhauen." 
Mutter: "Paul, komm mal her." 
Paul: "Nein." 

Versachlichung 

Die Mutter überlegt, ob sie das hinnehmen oder sich durchsetzen soll. Sie will Hannas Kummer aber nicht allein anhören. Vielmehr soll auch Paul das mithören. Also sagt sie: "Komm, Hanna, lass uns mit Paul reden." So geht sie mit Hanna zu Paul. Hanna schluchzt mitleiderregend. 
Paul sagt mit abweisend-verächtlicher Miene zur Mutter: "Die hat angefangen." 
Dann Hanna jammernd: "Stimmt gar nicht, der Paul hat mir mein Mäppchen geklaut." 
Daraufhin die Mutter: "Hanna, du sagst etwas über Paul. Sag doch bitte erst einmal etwas über dich selbst und darüber, was dir Kummer macht." 
Hanna weinerlich: "Der hat mich verhauen." 
Mutter: "Auch damit machst du ja Paul einen Vorwurf". Beschreib es doch einmal so, dass du nur etwas über dich selbst und dein Mäppchen sagst. Und lass Paul daraus einfach weg." 
"Und was soll das?", entgegnet Hanna schnippisch. 
Die Mutter: "Bitte versuch es doch. Du wirst sehen, dass es dir nützt." 
Hanna verdreht die Augen: "Die Sache ist doch klar: Paul hat mich beklaut und verhauen und du willst ihn bloß in Schutz nehmen." 
Die Mutter schaut Hanna liebevoll an: "Glaubst du wirklich, dass ich Paul lieber habe als dich?" "Nein, Mama", antwortet Hanna kleinlaut.
 Jetzt die Mutter: "Dann lass uns doch mal prüfen, ob die Sache wirklich so klar ist, wie du meinst. Was war denn mit dir und dem Mäppchen - ohne Paul?" 
"Mein Mäppchen ist weg", antwortet Hanna. 
"Das ist eine ganz sachliche Feststellung, die keinen verletzt; gut Hanna!" 

Verallgemeinerungen 
"O doch, Mama: Mich!", widerspricht Hanna,"denn Paul hat es weggenommen oder versteckt, um mich zu ärgern." 
"Eben sagtest du noch, er habe es geklaut, jetzt meinst du, er könnte es vielleicht bloß an sich genommen oder versteckt haben, ja?", fragt die Mutter nach. 
Hanna: "Ähm, na ja, vielleicht." 
Darauf die Mutter: "Du bist dir also nicht ganz sicher?"
Hanna: "Eigentlich doch, weil Paul mir schon oft was weggenommen hat, um mich zu ärgern." 
Paul macht Anstalten sich zu verteidigen. 
Die Mutter: "Lass mal, warte ab, Paul, ich möchte erst Hanna noch etwas fragen." Und zu ihr gewandt: "Weil das schon vorgekommen ist, meinst du, es sei diesmal ebenso?" 
Hanna: "Genau!" 
Die Mutter: "Kannst du da ganz sicher sein?" 
Hanna überlegt. Paul wirft ein: "Siehst du, Mama, das kann sie gar nicht, weil es nämlich gar nicht stimmt. Aber so ist Hanna immer." 
"Ach Junge", entgegnet die Mutter, "jetzt verhältst du dich gegenüber Hanna genauso wie du es ihr vorwirfst. Jeder von euch beiden sagt, weil er es manchmal so erlebt habe, sei es gewiss immer so." Paul und Hanna im Chor: "Ist es ja auch!" 
Die Mutter und Paul schauen sich an und finden das so komisch, dass sie gemeinsam darüber lachen. Hanna stutzt erst einmal darüber, erkennt den Witz und lacht dann mit. 

Eskalation

"Damit Hanna sich nicht vorkommt, als ob sie sich verteidigen müsste, bitte ich ebenso dich, Paul: Beschreib bitte den Anlass für euren Streit, indem auch du nur etwas über dich und nichts über Hanna dazu sagst."
 "Ich fühle mich zu Unrecht beschuldigt", antwortet Paul nach einigem Überlegen, und schiebt nach, dass er das Mäppchen wirklich nicht weggenommen habe.
"Aber dann hat er mir gleich eine gescheuert", wirft Hanna ein.
Paul: "Nein, Mama, das stimmt nicht. Erst gab nämlich ein Wort das andere. Und indem mich Hanna 'Lügner' schimpfte, hat sie mir zuerst eine gelangt. Dagegen habe ich mich gewehrt: Indem ich ihr zurief 'Jetzt langt's! ', hab ich ihr dann auch eine verpasst."
"Ja, und dann habt ihr munter weiter Krieg gespielt, bis Hanna zu mir flüchtete", stellt die Mutter mit Traurigkeit in ihrer Stimme fest und fragt: "Seht ihr denn jetzt wenigstens, wie es dazu gekommen ist, dass ihr die Sache nicht mit Worten klären konntet?"
Hanna und Paul spüren, dass die Mutter sie beide für mitschuldig hält und sich wünscht, sie hätten sich nicht geprügelt.

Betroffenheit

"Du musst doch zugeben, Mama, dass ich mich nur gewehrt habe", betont Paul seine mindere Schuld. "Ich muss gar nichts zugeben, was dir, Hanna, oder dir, Paul, mehr oder weniger Recht gibt. Ich war ja nicht dabei. Jeder von euch beiden versucht, sich mir gegenüber als Opfer darzustellen. Das überzeugt mich nicht. Ich halte nämlich auch keinen von euch beiden für böse. Aber euer beider Verhalten finde ich nicht gut", erklärt die Mutter.
"Was meinst du denn damit?", ertönt es von Hanna und Paul wieder im Chor.
 Die Mutter greift zur Gegenfrage: "Was glaubt ihr wohl, wie ich mich fühle, wenn meine Kinder sich prügeln?"
Wieder sind die beiden Kinder sich einig: "Das hat doch gar nichts mit dir zu tun!"
"Oh doch, lasst es euch erklären: Ich mache mir Sorgen, dass ihr auch als Erwachsene einen Streit bis zur Gewaltanwendung steigert, statt ihn durch Übereinkunft zu beenden, wenn ihr das als Kinder nicht gelernt habt", sagt sie ernst.
Und darauf Paul: "Aber Mama, wir sind doch noch Kinder."

Schlichtungsabsicht
"Ja, eben, Kinder", antwortet die Mutter, "wenn ihr es jetzt nicht bei mir lernt, wo ich euch beide lieb habe, wann denn dann? Die Erwachsenen lernen viel schwerer und manche wollen es gar nicht mehr. Eure Kindheit ist die Zeit, in der Euch das Lernen leicht fällt und nicht weh tut. Denn jetzt habt ihr Lehrer und Eltern, denen eure Lernfortschritte wichtig sind und die euch dabei lieb haben. Ich wünsche mir von euch, dass ihr mit meiner Hilfe nach einem guten Ausweg aus dem Streit sucht. Ein Ausweg ist gut, wenn er statt in einer Prügelei in einer Absprache endet, die ihr beide annehmen könnt."
"Sag mal, Mama, was ist das: eine Übereinkunft oder eine Absprache?", will Hanna erklärt bekommen.
Mit der Vertröstung "Das werdet ihr gleich noch selbst herausfinden" vermeidet die Mutter eine abstrakte Begriffserklärung.

Entschuldigung "Und wie kommen wir nun dazu?", fragt Paul nach.
"Du hast gesagt, Paul", wendet sich die Mutter ihm zu, "du fühlst dich zu Unrecht beschuldigt, hast also Hannas Mäppchen nicht weggenommen."
Paul: "Ja, genau."
"Und du, Hanna glaubtest, Paul habe es doch getan?"
"Ja, genau", antwortet auch Hanna.
Die Mutter: "Hast du denn heute bei Paul irgendetwas beobachtet, was für deine Vermutung spricht?" Nach längerem Zögern räumt Hanna ein: "Nein, heute eigentlich nichts."
"Und wieso nur 'eigentlich'?", fragte die Mutter nach.
Hanna: "Nun ja, ich kann ihn ja nicht andauernd im Blick haben."
Die Mutter: "Weil er dir früher mal was gemopst oder versteckt hat und weil es möglich wäre, dass er es heute wieder gemacht haben könnte, glaubst du, er hat es heute bestimmt wieder getan?"
Hanna kleinlaut: "Ach Mama, sicher bin ich mir jetzt nicht mehr, aber vorhin war ich davon überzeugt."
Die Mutter: "Das weiß ich schon, Hanna. Aber du solltest es Paul erklären und ihn fragen, ob er das annehmen kann."
Hanna zu Paul: "Muss ich das jetzt nochmal sagen?"
Paul zu Hanna: "Nee, ist schon gut so. Wenn das 'ne Entschuldigung sein soll, nehme ich sie an."

Später Wunsch
"Das finde ich prima", lobt die Mutter, "aber wir sind ja noch nicht fertig."
"Was denn nun noch?", sind Hanna und Paul sich wieder einig.
"Zweierlei fehlt noch: Erstens Hannas Mäppchen und zweitens, wie ihr künftig solchen Streit vermeiden könnt."
Und zu Hanna: "Wo hast du denn vorhin danach gesucht?"
"Überall, Mama", übertreibt Hanna.
Darauf die Mutter lächelnd zu ihr: "Dann sag mal, wo du überall gesucht hast, Hanna."
Sie antwortet: "Natürlich im Schulranzen, auf und unter dem Schreibtisch, im Regal und sogar auf dem Bett. Ich glaube nicht, dass es noch hier im Zimmer ist."
Darauf Paul: "Also ich habe es nicht in der Hand gehabt und schon gar nicht versteckt."
Hanna zu ihm: "Würdest du mir denn beim Weitersuchen helfen, Paul?"
Paul: "Das hättest Du mich besser gefragt, bevor du mir in die Schuhe geschoben hast, ich hätte dir das Mäppchen geklaut."
Hanna kleinlaut: "Stimmt."

Hilfreicher Tipp

Paul: "Gut, dann können wir ja mal gucken, wo du das Teil selbst versteckt hast"
Hanna. "Mama, wo würdest du zu suchen anfangen?"
Die Mutter: "Wo die Unordnung am größten ist."
Hanna: "Bei mir ist keine Unordnung,
Mama: "Mein liebes Kind, schau dir doch mal deinen Schreibtisch an; gehört denn der Schulranzen auf den Tisch? Und wie liegen da Bücher, Haushefte, Zettel und Zeichenzeug durcheinander!"
"Ach es ist aber auch wirklich schwer, es dir recht zu machen, Mama."
Derweil hebt Paul Hannas Schulranzen hoch und triumphiert: "Guck mal, Hanna, was hier liegt!" "Oh ha", sagt Hanna verlegen, "da hab ich vorhin nicht nachgeschaut."

Einsicht

"Na also, damit hat sich die Sache mit dem Mäppchen ja endlich geklärt. Bleibt die Frage, was ihr beide daraus jetzt gelernt habt, um künftig so blöden Streit zu vermeiden", resümiert die Mutter. Zu Hanna: "Fang du mal an."
"Bestimmt willst du mir wieder mal einbläuen, dass ich mehr Ordnung halten muss", entgegnet Hanna fast trotzig.
Die Mutter klärt: "Ach, Hanna, das hilft zwar, Gesuchtes leichter zu finden, aber nicht Streit zu vermeiden. Überleg doch mal, womit du Paul so auf die Palme gebracht hast."
Hanna leise: "Ich hatte geglaubt, Paul hätte mir das Mäppchen weggenommen."
Darauf Paul: "Statt mir das vorzuwerfen, hättest du mich besser gleich gefragt, ob ich dir suchen helfe."
Nun Hanna: "Ja Paul, entschuldige bitte."
Und Paul: "Hab ich doch vorhin schon."

Zwei Lehren

"Dann ist ja alles geklärt bis auf die Frage, was eine Übereinkunft oder Absprache ist. Dazu möchte ich dich, Paul, fragen, was du dir für die Zukunft von Hanna wünschst, damit so was nicht wieder passiert."
Paul: "Die soll mal nicht so schlecht von mir denken."
Die Mutter: "Dann sag doch Hanna, was sie tun oder lassen sollte, damit du nicht das Gefühl bekommst, sie dächte schlecht von dir."
"Also", antwortet Paul langsam und mit faltiger Stirn, "Hanna sollte sich selber fragen, ob stimmt, was sie glaubt, bevor sie es sagt." "
Und was meinst du dazu, Hanna?", fragt sie die Mutter.
"Das fällt mir aber schwer. Wenn ich doch von etwas überzeugt bin, warum sollte ich es denn bezweifeln?", wendet sie ein.
"Keiner behauptet, dass das leicht ist. Aber dass es nützlich ist, zeigt sich an der Sache mit dem Mäppchen. Wer eine Vermutung hat, sollte sie prüfen, bevor er sie äußert. Das hat Paul eben wunderbar erkannt und ausgedrückt."
"Davon allein kann man es doch aber noch nicht", wendet Hanna ein.
"Das stimmt, Hanna. Man muss es bei jeder Gelegenheit üben. Und dabei können wir uns gegenseitig helfen, indem wir einander einfach fragen: ‚Bist du ganz sicher?' - Und ein zweites habe ich dich vorhin gebeten: Beschreibe, was dir am Herzen liegt, ohne einen andern zu beschuldigen oder zu verurteilen. Denn damit sind wir vorhin auch weiter gekommen."

Ergebnis "Und was ist jetzt die 'Übereinkunft' oder 'Absprache'?", will Paul noch wissen. "

Du hast schon gesagt, was du, Paul, dir von Hanna für die Zukunft wünschst. Nun, Hanna, was wünschst du dir denn von Paul?"
"Dass er nicht aufbraust, wenn es mir nicht auf Anhieb gelingt."
Die Mutter: "Ist das für euch beide so in Ordnung?"
Noch einmal antworten beide im Chor: "Ja, ok". "Seht ihr, das ist jetzt eure Übereinkunft oder Absprache. Haltet sie ein und erinnert euch daran, wenn es nötig wird. So könnt ihr in Zukunft Streit vermeiden."

Peter Denker  

Hinweis Handlung und Leitgedanken dieses Kapitels sind in der Buchdokumentation beschrieben.

Link zur Homepage:http://publicationes.de/


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